Geschrieben von Lars Molzberger

Worum geht es? Eine Geheimpolizei mit Gleisanschluss - mutmaßlich einmalig auf der Welt

Was sagt das Einleitungsbild aus?  Ein verbotenes Foto. Die Ladestelle Hohenschönhausen war zwar öffentlich zugänglich. Aber solche Fotos sah die Geheimpolizei gar nicht gern. Man hatte schließlich was zu verbergen. Wir sehen das Tor zur Anschlussbahn des MfS. Heute sind solche Fotos Raritäten. 26. April 1979 Foto Sven Hannemann.

Eine Geheimpolizei mit Gleisanschluss

Die Geschichte und Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) muss ich Ihnen nicht groß verdeutlichen. Nur ein paar Eckdaten zum Verständnis: Gegründet wurde das MfS am 8. Februar 1950, das Vorbild war der sowjetische NKWD. Das MfS wies militärische Strukturen auf, seine Angehörigen waren dem strikten Befehlsprinzip und militärischen Disziplinarrecht unterworfen. Zum Ende der DDR gehörten etwa 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter dem MfS an, hinzu kamen je nach Quelle 110.000 bzw. 189.000 sogenannte inoffizielle Mitarbeiter1

Doch wie war es möglich, dass eine Geheimpolizei nicht nur einen Gleisanschluss betrieb? Eine Geheimpolizei wie das MfS, die an eine Schieneninfrastruktur angebunden war, dürfte meiner Kenntnis nach weltweit einmalig sein. Doch wie kam es dazu?

Von der Fleischmaschinenfabrik Heike zum Staatssicherheit-Gefängnis Hohenschönhausen

Das MfS hat, soviel kann bereits gesagt werden, die Anschlüsse nicht selbst in Auftrag gegeben, sondern bekam sie mit Übernahme der Liegenschaften mit übereignet. Das MfS hat also bereits existierende Infrastruktur für sich übernommen.

In Hohenschönhausen betrieb Richard Heike eine Fleischmaschinenfabrik und die dazugehörigen Gleisanschlüsse. Ein Teil des Geländes hat Heike Ende der 1920er Jahre verpachtet bzw. 1938 verkauft. Auf dem verkauften Areal wurden Baracken für Zwangsarbeiter sowie eine Großküche der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt errichtet. Dieses Areal mit der Großküche diente der Sowjetischen Militäradministration als Grundlage für die Errichtung des sogenannten Speziallagers Nr. 3 ab Mai 1945. Das Speziallager diente offiziell dazu, Funktionsträger des NS, die aktiv in das Terror- und Mordsystem eingebunden waren, ihrer gerechten Strafe zuzuführen. In der Realität wurden aber auch Menschen inhaftiert, die den vorgenannten Kriterien nicht entsprachen, aber den sowjetischen Sicherheitsorganen politisch suspekt waren. Aber es wurden auch Verhaftungen vorgenommen, die einen konkreten Bezug zu den Machtkämpfen zwischen der SPD und der KPD/SED aufwiesen und damit nichts mit dem ursprünglichen Zweck des Speziallagers zu tun hatten.

1946 wurde das Speziallager aufgelöst und die Gefangenen in andere Lager verbracht. 1947 baute die sowjetische Geheimpolizei die Keller der ehemaligen Großküche Zellen ein. Dieser fensterlose, bunkerartige Trakt wurde unter der Bezeichnung „U-Boot“ bekannt. Es war das zentrale Untersuchungsgefängnis des NKWD für alle Menschen, die der NKWD eine wie auch immer geartete Gegnerschaft unterstellte. Dieses Untersuchungsgefängnis übernahm 1951 das MfS. Es diente als Basis für den heute vorhandenen Gebäudekomplex. Aber das Gefängnis war nicht der einzige Gebäudekomplex an der Ladestelle Hohenschönhausen. Das gesamte Territorium der ehemaligen Maschinenfabrik Heike wurde zum Sperrbereich des MfS. Hier siedelten sich nach sukzessive andere MfS-Einrichtungen an, wie z.B. der Operativ-Technische Sektor (OTS), der Abhöranlagen entwickelte, gefälschte Pässe herstellte. Die Abteilung Bewaffnung/Chemischer Dienst (BCD) wartete die Waffen der MfS-Mitarbeiter und traf Vorbereitungen für den Kriegsfall. In der Villa Heike befand sich das NS-Archiv, mit dessen Aktenbestand weniger die Aufarbeitung von NS-Verbrechen und die Verfolgung der in der DDR lebenden NS-Tätern betrieben wurde, sondern eher der Erpressung dieser Personen diente, um sie zur geheimdienstlichen Mitarbeit zu bewegen.

In diesem Sperrbereich lag nun der Anschluss der ehemaligen Maschinenfabrik Heike, durch den das MfS zu einer Kundin der Deutschen Reichsbahn wurde. Das Anschlussgleis zweigte im km 0,467 des Stichgleises Hohenschönhausen ab und war eingleisig. Das Gleis endete an der Freienwalder Straße. Natürlich muss die Liegenschaftsinhaberin einen zugehörigen Gleisanschluss nicht nutzen. Im Fall des MfS wurde er benutzt. Belegt ist, dass das MfS seit dem 1. Oktober 1951 bedient wurde, ohne die jährlichen Anschlussgebühren von 106,10 DM zu bezahlen. 2

Das Anschlussgleis des MfS Stand 22. April 1953Das Anschlussgleis des MfS auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Maschinenfabrik Heike.  Stand 22. April 1953

Die Deutsche Reichsbahn forderte in einem Schreiben vom 6. Oktober 1954 der damals zum Staatssekretariat für Staatssicherheit degradierten Geheimpolizei die rückfälligen Gebühren von 291,85 DM auf. Zuvor wurde ein Anschlussbahnvertrag unterzeichnet. Seit dem 1. Juli 1954 war die Nutzung des Anschlusses durch die Geheimpolizei offiziell mit der Deutschen Reichsbahn geregelt. Der Jahresbeitrag betrug 258,84 DM. 1953 erhielt das MfS 1952 Wagen. Das entspricht fünf Wagen pro Tag. Welche Güter das MfS erhielt, muss leider offen bleiben. Da auf dem Gefängnisgelände eine rege Bautätigkeit einsetzte, könnte die relativ hohe Anschlussbedienung darauf zurück zu führen sein. Weitere Angaben liegen für die Zeit vom 1. Juli 1958 bis 30. Juni 1960 vor. In zwei Jahren wurden 2198 Wagen dem MfS zugeführt. Das entspricht pro Tag immer noch 3 Wagen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um Güter für die Versorgung des Komplexes handelte.

Die Anschlussbahn des MfS direkt von der Ladestelle Hohenschönhausen. 1975Die Anschlussbahn des MfS direkt an der Ladestelle Hohenschönhausen. Slg Lutz Schlüter 1975

Seit 1975 ist auf einem Gleisplan das Anschlussgleis, das direkt aus dem Gleis 4 der Ladestelle Hohenschönhausen abzweigte, als MfS-Anschlussbahn bezeichnet.Auch dieses Anschlussgleis gehörte vormals zur Maschinenfabrik Heike. Auf einen Plan von 1962 ist das Anschlussgleis als nicht befahrbar markiert. Ob dieses Gleis vor 1978 überhaupt benutzt wurde, ist fraglich. Denn im Schreiben der Staatlichen Bahnaufsicht des Ministeriums für Verkehrswesen der DDR vom 20. Dezember 1977 an das MfS wird von einer Bereitstellung und Entladung der Güterwagen direkt auf der Ladestelle Hohenschönhausen gesprochen.3 Das deckt sich mit den Angaben des MfS in einem Schreiben an die Deutsche Reichsbahn Abteilung Recht vom 10. Januar 1978. Laut diesem Schreiben ist das Anschlussgleis des Stichgleises Hohenschönhausen stillgelegt und das MfS beantragt die Demontage des Anschlussgleises und damit auch die Demontage des gesamten Stichgleises, weil das Gleis durch das Gelände des Sperrgebiets verläuft und das dem MfS ein Dorn im Auge war (Verweis auf Gesetz zur Verteidigung der DDR). Das MfS wollte von der DR wissen, wer das Gleis rückbaut. Offensichtlich gab es darüber Meinungsverschiedenheiten. Knapp drei Jahre später, am 8. Dezember 1981, teilte das MfS der Deutschen Reichsbahn mit, dass das Gleis durch das MfS selbst rückgebaut wurde. Am 26. März 1982 erlosch der Anschlussbahnvertrag für das Anschlussgleis 4 Es kann angenommen werden, dass die Anschlussbahn direkt an der Ladestelle Hohenschönhausen frühestens seit Anfang 1978 genutzt wurde. Laut5 wurde der Anschluss bis ca. 1986 etwa einmal wöchentlich mit einen Kesselwagen mit Heizöl bedient.

Blick aus einem Postenturm auf die Anschlussbahn. Am Gleisabschluss ist eine Dampfspeicherlok zu erkennen. Im HIntergrund das heute noch existierende Gebäude der CAF Kahlbaum Likör- und Spritfabrik. 1985. BArch_MfS-HA-IX-13365 Blick aus einem Postenturm auf die Anschlussbahn. Am Gleisabschluss ist eine Dampfspeicherlok zu erkennen. Im Hintergrund Bildmitte das heute noch existierende Gebäude der CAF Kahlbaum Likör- und Spritfabrik. 1985. BArch_MfS-HA-IX-13365

Mir wurde öfters die Frage gestellt, ob über die Anschlussgleise Häftlinge transportiert wurden. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen ist seit 2004 ein sogenannter Gefangenen-Sammel-Transportwagen (GSTW) ausgestellt. In diesen als „Grotewohl-Express“ bezeichneten speziellen Personenwagen wurden die Häftlinge zu den Strafanstalten der DDR transportiert. Daher ist die Frage naheliegend, ob nicht auch ein solcher GSTW an der Ladestelle Hohenschönhausen zum Einsatz kam. Für diese Transporte gibt es keine Quellen. Im Gegenteil, das MfS hat bewusst die Öffentlichkeit einbezogen und die Häftlinge an stark frequentierten Fernbahnhöfen wie Lichtenberg einsteigen lassen. Die Häftlinge sollten damit in der Öffentlichkeit entwürdigt werden, denn die Öffentlichkeit sollte annehmen, dass die Inhaftierten Schwerverbrecherinnen und -verbrecher sind und keine „normalen“ Menschen, die nur von ihrer durch die Verfassung der DDR garantierte Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben.

Mit der politischen Wende 1989 begann auch das Ende der Willkürherrschaft der Geheimpolizei MfS. Ende 1990 wurde das Untersuchungsgefängnis geschlossen und seit 1994 ist es eine Gedenkstätte. Mit dem Niedergang des Verkehrs auf der ITF siedelten sich auf dem Gelände der ehemaligen Ladestelle Hohenschönhausen Gewerbe an. Das Tor zum ehemaligen Anschluss ist daher von außen nicht mehr zugänglich.

Der Personenschutz des MfS in Weißensee mit Gleisanschluss

Wer heute die Neumagener Straße in Berlin-Weißensee lang spaziert, stößt in Höhe der Hausnummer 33 auf einen Wachturm des Typs BT6. Diese Wachtürme kennt man sonst neben dem Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen von der Berliner Mauer her. Aber hier, im tiefsten Weißensee, gab es keine Staatsgrenze zu bewachen und auch kein Untersuchungsgefängnis, in das Menschen rechtswidrig eingeliefert wurden. Nein, hier existierte eine Abteilung des MfS, die ausnahmsweise keine Andersdenkenden verfolgte, sondern Personenschutz für die Staats- und Parteiführung sowie Staatsgästen gewährleistete.

Wie in Hohenschönhausen übernahm das MfS existierende Infrastruktur. Das Gebäudekomplex an der Berliner Allee Ecke Liebermannstraße gehörte einst zur Firma Carl Otto Raspe und Co. Chemische Fabrik und Apparatebau. Raspe baute unter anderem Fluginstrumente. Ab 1939 galt die Firma als kriegswichtig und benötigte für die Produktionserweiterung einen kompletten Neubau. 1940/1941 wurde nach den Plänen von Richard Schubert ein repräsentatives Verwaltungs- und Fabrikgebäude, Garagen ein Heizhaus sowie eine Verladestation gebaut. 1943 wurde die Mariendorfer Firma Askania-Werke bei Riebe untergebracht. Das Mariendorfer Werk wurde ausgebombt. Askania stellte wie Raspe und Riebe Präzisionsinstrumente für Flugzeuge her. Der Anschluss von Raspe und Riebe war für die Verhältnisse auf der ITF recht umfangreich ausgestaltet. Drei freiliegende Anschlussgleise, die von einer doppelten Kreuzungsweiche ausgingen. Das Anschlussgleis von Raspe und Riebe war mit dem der Firma Weißensee-Guß AG verbunden.Zwischen den Weichen R5 und R7 befand sich die Ladehalle von Raspe und Riebe . Ob diese Ladehalle von beiden oder nur einer Firma genutzt wurde, muss offenbleiben.

Der umfangreiche Gleisanschluss der Firma Raspe und Rieb Stamd 10. Juli 1940Der umfangreiche Gleisanschluss der Firma Raspe und Riebe Stand 10. Juli 1940

Zwischen 1945 und 1953 beanspruchte die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) den gesamten Komplex. Ab 1953 übernahm das MfS den Gebäudekomplex. Neben Dienststellen der Volkspolizei residierte hier die Abteilung Personenschutz des MfS. Der Standort war passend, denn die seit 1956 von Berliner Allee in Klement-Gottwald-Allee umbenannte Straße lag an der Protokollstrecke von Wandlitz nach Berlin-Mitte.

Der Anschluss des MfS in Weißensee wurde auch unter der unverfänglicheren Bezeichung MdI für Ministeriums des Inneren bezeichnet. Slg Lutz SchlüterDer Anschluss des MfS in Weißensee wurde auch unter der unverfänglicheren Bezeichung MdI für Ministerium des Inneren bezeichnet. 1975 Slg Lutz Schlüter

Das MfS unterhielt die Motorradeskorte und eine Waffen- und Munitionskammer. Laut dieser Quelle 6 lagerten hier u.a. 1089 Gewehre, 1335 Pistolen, 145 Panzerfäuste und 4000 Granaten. Schätzungsweise 300 bis 800 Mitarbeiter waren hier beschäftigt. Aber eine Frage muss derzeit offenbleiben: Was erhielt das MfS über die Schiene? Waren es nur Versorgungsgüter? Wurden Waffen und Munition hier angeliefert? Oder beides?

1996 existierte der Anschluss der MfS noch. Anhand des Vegetationsbewuches sieht man, dass die Bedienungen auf dem Stammgleis deutlich nachgelassen haben. Foto Lutz Schlüter1996 existierte der Anschluss der MfS noch. Anhand des Vegetationsbewuchses sieht man, dass die Bedienungen auf dem Stammgleis deutlich nachgelassen haben. Foto Lutz Schlüter

Seit November 1990 dient ein Teil des ehemaligen Komplexes von Raspe und Riebe als Rathaus des Stadtbezirks Weißensee (seit 2001 Bürgeramt Weißensee) und als Finanzamt Pankow/Weißensee sowie seit 2005 als Kreativstadt Weißensee. Es sind sogar noch Relikte aus den Zeiten der ITF erhalten, wie die nachfolgenden Fotos belegen.

 

Ladehalle 2023Die Ladehalle von Raspe und Riebe in der die Motorradeskorte und die Waffenkammer des MfS untergeracht war. Foto Angela Monika Arnold. CC3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.deLadehalle 2023 GleisseiteDie ehemalige Gleisseite der Ladehalle. Foto Angela Monika Arnold. CC3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.deReste Gleisabschluss 2023Reste vom Gleisabschluss. Foto Angela Monika Arnold. CC3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.deSchienenreste 2023Sogar ein Schienenrest ist übrig geblieben. Foto Angela Monika Arnold. CC3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.de

 

  

 Woher stammt das Wissen?

 

1https://www.spiegel.de/politik/deutschland/studie-zur-stasi-zahl-der-im-in-der-ddr-umstritten-a-884493.html

2 Landesarchiv C Rep. 309 Nr. 3375

3 Barch-MfS-VRD-9882 – Blatt 15

4 Landesarchiv C Rep. 309 Nr. 3375

5 Kuhlmann, Bernd, Gefängnisse auf Schienen, Verkehrsgeschichtliche Blätter 1/2006, Seite 9

https://web.archive.org/web/20210301003606/https://www.berliner-zeitung.de/ausstellung-dokumentiert-wie-anwohner-ein-stasi-waffenlager-entdeckten-handgranaten-und-panzerfaeuste-li.10954

 

 

Veröffentlicht am 26. Oktober 2025